ENTSPANNUNG – siehe Teil 1 – und FOKUS – siehe Teil 2 – sind essentiell, denn sie legen das Fundament. Doch Meditation kann noch tiefer gehen: Meditation schärft den Geist und ein klarer Geist erkennt die Realität. Das führt uns von Unwissenheit zu Einsicht. In diesem 3. Teil bespreche ich einige Aspekte der Einsichtsmeditation und wie wir „von Unwissend zu Erkennend“ kommen können – die Inspiration für diesen Text kommt von der buddhistischen Sichtweise des sog. Nicht-Selbst.
Unwissend-Sein in Bezug auf die Realität
Unwissenheit bedeutet hier nicht, dass uns Fakten fehlen oder wir nicht gebildet sind. Es geht vielmehr darum, dass wir oft blind für die wahre Natur unserer Erfahrungen sind – insbesondere dafür, wie unser Geist die Realität verzerrt.
Ich und meine Gedanken
Nehmen wir als Beispiel “Ich und meine Gedanken”:
Gedanken poppen auf, ich reagiere, und irgendwie kommt es mir so vor, als wäre da ein “Ich“, das die Gedanken denkt.
Aber WER denkt eigentlich? Was sind Gedanken?
Tief in uns drinnen sitzt der Glaube, dass es da irgendwo ein Ich gibt, einen Denker, der unsere Gedanken erzeugt. Dieser Denker – dieses Ich – agiert wie ein unabhängiger Steuermann.
Das Ich bzw. das Selbst der Person
Im Alltag identifizieren wir uns sehr stark mit unserem Ich. Wir haben das Gefühl, “ich bin das Zentrum der Welt”.
Das Ich erscheint uns wie ein unabhängiger Akteur, eine Art Kapitän, der Körper und Geist auf dem Ozean des Lebens mal besser, mal schlechter steuert.
Doch ist das wirklich so? Schauen wir mal.
Wie erscheint das Ich?
Erster Schritt: Meditiere und prüfe die Erscheinungsweise – WIE erscheint das Ich?
Wenn es dieses Ich wirklich gibt, dann müsste es irgendwo aufzufinden sein, nicht wahr? Daher schauen wir zunächst, wie sich dieses Ich in unserem Alltag zeigt.
Am stärksten empfinden wir das Ich-Gefühl, wenn uns jemand beleidigt oder besonders lobt. Im ersten Fall ärgern und verteidigen wir uns, im zweiten Fall schwillt unsere Brust an und wir fühlen uns großartig.
In solchen Momenten erleben wir unser Ich als ganz real und identifizieren uns stark mit ihm.
Bei dieser Übung geht es zunächst nur um die Beobachtung: Halte mal einige Minuten inne und beobachte in solchen Momenten dein Ich. Wie erscheint es dir? Vielleicht merkst du, dass es schwer zu fassen ist, selbst in Momenten, wo es ganz stark auftritt.
Wenn du durch diese Erfahrungen ein Gefühl für das Ich gewonnen hast, dann kommt der nächste Schritt.
WO befindet sich das Ich?
Zweiter Schritt: Begib dich auf die Suche nach dem Ich – WO befindet sich das Ich? Kannst du es irgendwo festmachen?
Nun hast du also ein Gefühl von diesem Ich, du erlebst es vor allem in emotionalen Momenten.
Doch wenn das Ich als Akteur tatsächlich so existiert, wie du denkst, dann kann es nur innerhalb oder außerhalb von Körper und Geist existieren. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht, oder?
Existiert das Ich innerhalb von Körper und Geist? Wenn ja, wo genau?
Oder kannst du es außerhalb von Körper und Geist finden? Wenn ja, wo genau?
Denke nach, meditiere über diese Fragen! Das ist ein konkretes Beispiel für eine analytische bzw. Einsichtsmeditation.
Wenn du dies in der Meditation analysierst, dann treten mit Sicherheit Fragen und (logische) Widersprüche auf.
Schließlich kommst du mit Hilfe der Meditation irgendwann – es kann Jahre dauern 😉 – zur Erkenntnis:
„So, wie mir das Ich erscheint, existiert es nicht.”, oder kurz gesagt: „Bei Analyse nicht auffindbar.„.
Also wie existiert es dann?
Das Nicht-Ich bzw. das Nicht-Selbst der Person
Das Ich ist weder Körper noch Geist, auch nicht beides zusammen und auch nicht keines von beiden 😲.
Dennoch existieren wir – du und ich – und mit uns existiert das Ich. Wir leben, funktionieren, handeln, erleben und fühlen. Unser Leben ist ja ganz konkret greifbar und unbestritten.
Dennoch ist die Erscheinungsweise des Ichs trügerisch, eine Illusion.
Die buddhistische Ansicht des Nicht-Selbst in Bezug auf die Person (“das Ich”) lautet:
Das Ich – die Person – ist eine bloße Benennung auf Basis ihrer Benennungsgrundlage (= Körper und Geist). Oder anders gesagt: Das Ich ist leer von inhärenter Existenz.
Das bedeutet, das Ich ist keine feste, statische oder unabhängige Substanz. Es ist “nur” eine bloße Benennung in Abhängigkeit von Körper und Geist.
Somit ist das Ich abhängig von Körper und Geist und dadurch auch in dauernder Veränderung, aber gleichzeitig bei Analyse nicht auffindbar.
Wir sehen, das Ich oder Selbst ist kein starres, isoliertes, unabhängiges, unveränderliches Etwas, das uns wie ein Kapitän steuert. Es ist vielmehr flexibel und in dauernder Veränderung – eben weil es ABHÄNGIG entstanden ist.
Es ist daher eng verbunden mit dem sich in ständiger Veränderung befindlichen Fluss aus Körper, Gedanken, Gefühlen, Wahrnehmungen usw. und trotzdem weder eins mit, noch verschieden von diesem Strom.
Fazit: Das Ich existiert, aber nicht so, wie es uns erscheint.
Du denkst jetzt vielleicht: Das sind doch nur philosophische Spekulationen und haben nichts mit meinem konkreten Leben zu tun. Doch Fakt ist, aus diesem falschen Denken entspringen Gedanken und Handlungen, die häufig destruktiv sind und Leiden verursachen.
Nachteile der falschen Sichtweise
Aus der starken Identifikation mit dem Ich entsteht Mein.
Mein ist das, was diesem vermeintlichen Ich gehört – der eigene Körper, das Haus, das Auto, der Ruhm, die Schönheit, häufig auch der Partner/die Partnerin, usw. Diese falsche Sichtweise in Bezug auf Ich und Mein nennt man Unwissenheit.
Und aus dieser Unwissenheit entstehen aus buddhistischer Sicht alle Leiden. Denn Ich und Mein müssen “verteidigt” werden, z.B. gegen äußere Feinde.
Die Illusion einer substantiell unabhängigen Instanz namens Ich…
…verstärkt Abneigung – „Ich hasse dich.“,
…fördert Stolz – „Ich bin die Schönste, die Größte und Beste und moralisch überlegen.” und
…ist die Quelle der Anhaftung “Ich brauche dich, um glücklich zu sein, und ohne dich kann ich nicht leben.” Oder: „Du gehörst mir.”.
Destruktive Emotionen, wie Begierde, Hass, Stolz und viele weitere entstehen aus Unwissenheit, aus der falschen Sichtweise in Bezug auf Ich und Mein.
Dabei übersehen wir die Verbundenheit, die wechselseitige Abhängigkeit.
So wie unser Ich nichts Festes, Unabhängiges ist, so sind auch unsere Gedanken nichts Festes, Unabhängiges.
Gedanken sind bloße Erscheinungen im Geist, entstanden in Abhängigkeit von Gefühlen, Wahrnehmungen, Ereignissen usw.
Gedanken kommen und gehen.
Gedanken und Cancel-Culture
Gedanken entstehen, ohne dass es dazu einen unabhängigen Denker braucht, der sie erzeugt. Fast alles, was wir tun, sagen und fühlen, ist zunächst ein Gedanke.
Auch die Gefühle von Schmerz, Abneigung, Wut, Freude, Glück usw. sind meistens Produkte unserer Gedanken.
Und wenn jemand z.B. einen “falschen” Satz, ein “falsches” Wort sagt, dann entstehen Gedanken, wie:
“Diese Person ist schlecht, mit ihr will ich nichts (mehr) zu tun haben.”
Ja, es sind bloße Gedanken, die zur Cancel-Culture führen. Aufgrund bestimmter Aussagen wird eine Person als Ganzes “gelöscht”, obwohl man sie in ihrer Ganzheit gar nicht kennt und meistens gar nicht beurteilen kann.
Dazu kommt, dass diejenigen, die canceln, sich moralisch überlegen fühlen. Dieses Überlegenheitsgefühl – Stolz – ist Ich-Anhaftung bzw. Über-Identifizierung mit einem Ich, das es so gar nicht gibt.
Narzissmus ist eine Folge dieser Über-Identifizierung mit einem vermeintlichen Ich.
Sollen wir nun das Denken abschaffen? Natürlich nicht.
Wir müssen ja denken. Wir planen unsere Zukunft, erinnern uns an die Vergangenheit und “bewältigen” unser Leben vor allem mit Hilfe des Denkens.
Vorteile der korrekten Sichtweise – von Unwissend zu Erkennend
Durch regelmäßiges Meditieren wird der Geist stark und sieht klar. Ein starker Geist – Fokus – kann Körper und Geist lenken und kontrollieren. Ein klarer Geist – Einsicht – wird von “unwissend zu erkennend”, weil er den Zusammenhang zwischen falschem Denken (= Unwissenheit) und Leiden sieht.
Wenn unser Geist trainiert ist und einen klaren Fokus entwickelt – z. B. durch Shamatha-Meditation -, dann können wir mit dieser geistigen Klarheit die Wirklichkeit untersuchen.
Diese Form der Meditation heißt Analytische Meditation. Sie wird auch Vipassana oder Einsichtsmeditation genannt.
Erkenntnis bedeutet, die Dinge entsprechend der Realität zu sehen: als abhängig entstandene Phänomene, ohne eine feste, starre Substanz, die alles steuert.
Mit einem durch Meditation trainierten Geist haben wir die großartige und immer wichtiger werdende Fähigkeit, uns einspitzig auszurichten und Phänomene und Sachverhalte auf ihren Wahrheitsgehalt zu analysieren.
Erkenntnis ist ein Gewinn für den Einzelnen und für die Welt. Erkenntnis befähigt, zwischen Richtig und Falsch, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, und zwar mit Begründungen.
Indem du erkennst, was wahr und richtig, was anzunehmen und aufzugeben ist, kannst du Grenzen setzen und für die “Wahrheit” einstehen und kämpfen – ohne Groll, Hass und Bitterkeit.
Praktische Übung – die Gedanken beobachten
Hier habe ich eine einfache Übung für den Alltag:
- Setz dich einige Minuten hin: Finde eine ruhige Ecke, sitze aufrecht und atme ein paar Mal entspannt ein und aus.
- Beobachte deine Gedanken: Lass den Geist tun, was er will, und schau zu, als würdest du Wolken am Himmel betrachten. Was taucht auf? Ein Plan? Ein Gefühl? Eine Emotion? Eine Idee? Ein Bild?
- Frag dich: Woher kam dieser Gedanke? Kann ich den nächsten vorhersagen? Wer denkt ihn?
- Kehre zum Atem zurück: Wenn du dich verlierst, lenke die Aufmerksamkeit sanft auf deinen Atem und beginne von vorn.
Diese Übung lässt dich erahnen, wie Gedanken kommen und gehen, ohne dass ein festes Ich sie steuert. Mit der Zeit wird das zur Gewohnheit:
Du nimmst Gedanken weniger persönlich, reagierst entspannter und dein Geist wird locker und humorvoll 😉
Fazit: Meditation ist die Brücke von Unwissend zu Erkennend
Meditation ist mehr als ein Werkzeug zur Entspannung und Konzentration – sie kann uns von Unwissenheit zu tiefer Erkenntnis führen.
Einsichtsmeditation vertreibt die Illusion eines unabhängigen „Ich“ und offenbar die wahre Natur unserer Erfahrungen: Das Ich, der Körper, die Gedanken und Gefühle usw.– entstehen in Abhängigkeit und sind unbeständig – in ständiger Veränderung. Sie kommen und gehen.
Einsicht und Erkenntnis…
- befreien von übermäßiger Ich-Identifikation (narzisstisches Ego),
- reduzieren Anhaftung, Abneigung und Unzufriedenheit und
- fördern Mitgefühl und Humor im Alltag.
Während Entspannung (Teil 1) und Fokus (Teil 2) die Grundlage schaffen, gewinnen wir durch die Erkenntnis der Realität ein Stück echte Befreiung.
Meditation ist die Brücke von blindem Dasein zu erkennendem Sein.
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