Heute ist der 2. November, Allerseelen. In den christlichen Traditionen wird an diesem Tag der Verstorbenen gedacht. Aber nicht nur das. Man erinnert sich auch an die eigene Vergänglichkeit und daran, dass das Sterben zum Leben gehört. Die sichtbare Vergänglichkeit der uns umgebenden Natur zeigt uns vor allem jetzt im Herbst das Wechselspiel von Kommen und Gehen, von Entstehen und Vergehen.
Der Tod – die Urangst aller Lebewesen
Der Tod betrifft uns alle. Die Angst vor dem Tod ist die Urangst der Menschen. Doch Gedanken über den Tod machen wir uns erst dann, wenn wir krank werden oder wenn Nahestehende sterben.
Die Gedanken ans Sterben wischen wir schnell weg. Wir spüren eine diffuse Angst und wollen unangenehme Gefühle vermeiden. Nur Wenige wissen, wie man sich mit dem eigenen Tod auseinandersetzt. Kann man sich auf das Sterben überhaupt vorbereiten?
In der buddhistischen Tradition, vor allem im Tibetischen Buddhismus, sind die Meditationen über Tod und Vergänglichkeit immens wichtig. Den Tod als Teil des Lebens zu begreifen und dieser Realität bewusst zu begegnen, bereichert unser Leben und stärkt unsere spirituelle Praxis. Ohne diese Bewusstheit haben wir kaum Antrieb und Motivation, unser Leben sinnvoll zu nutzen.
Die christlichen Religionen und auch die Buddhisten sagen gleichermaßen: Die Art und Weise, WIE wir LEBEN, beeinflusst nicht nur die Art und Weise, WIE wir STERBEN, sondern vor allem auch das, was nach dem Tod auf uns wartet.
Viele buddhistische Meister gaben ihren Schülern z.B. erst dann Belehrungen, wenn sie die „vorbereitenden“ Meditationen über Tod und Vergänglichkeit gemeistert hatten. Sie haben erkannt, dass eine Person, die nicht „weiß“, dass sie sterben wird, sich nur auf dieses eine Leben konzentriert.
Sie kümmert sich nicht um das, was danach kommt. Dadurch bleibt die spirituelle Kraft schwach, und religiöse Belehrungen wären nur Zeitverschwendung 😉
Meditationen über Tod und Vergänglichkeit
Für die meisten Menschen bedeutet Angst vor dem Tod hauptsächlich Angst vor der Trennung von den Liebsten und Angst vor dem Unbekannten. Dieses Unbekannte ist noch dazu irreversibel. Es gibt kein Zurück, und es ist diese Endgültigkeit, die für uns nicht fassbar, nicht vorstellbar ist.
Der tibetische Meister Je Lama Tsongkhapa erklärt in seinen Lamrim-Schriften, wie man sich den Tod vergegenwärtigt (lam-rim bedeutet wörtlich übersetzt “Stufenpfad”; gemeint ist der Stufenpfad zum Erwachen).
Es handelt sich dabei um drei Meditationen, um drei Grundgedanken, über die man nachdenkt, die man kontempliert. Am Ende jedes Grundgedankens steht ein Entschluss, der wiederum in der Meditation verinnerlicht wird.
Diese Meditationen sind sog. analytische Meditationen.
Das heißt, man meditiert über bestimmte Sachverhalte, denkt meditierend darüber nach – analysiert – und kommt schließlich zu einer Einsicht.
Analytische Meditation geht tiefer als bloßes Nachdenken.
Übe so, dass du immer von dir selbst ausgehst. Du bist das Bezugsobjekt in deiner Meditation. Denn nur das erzeugt Betroffenheit und stärkt die Gewissheit, dass der Tod tatsächlich real ist.
Denn meistens denken wir: Alle müssen sterben, vielleicht auch ich 😉
Die erste Meditation: Der Tod ist gewiss.
Folgende Gedanken begleiten die Meditation:
Der Tod kommt mit Sicherheit und er ist durch nichts abzuwenden. Egal, wo du dich aufhältst, es gibt keinen Ort im gesamten Universum, an dem nicht gestorben wird.
Du kannst dich vor dem Tod nicht verstecken: Weder Flucht, noch Stärke, Reichtum oder Medizin können den Tod verhindern.
Die Lebensspanne wird ständig kürzer und kann nicht verlängert werden. Jede Minute, die vergeht, ist eine Minute weniger Lebenszeit und eine Minute näher am Lebensende.
Dazu sagt Shantideva, ein indischer Meister aus dem 8. Jahrhundert, in seinem Werk Bodhicaryavatara:
“In einem fort geht dieses Leben verloren,
Tag und Nacht, ohne dass es Verweilen gäbe,
und wenn es so ist, dass von nirgendwo eine Verlängerung herkommt –
wie könnte es sein, dass solche wie ich nicht sterben müssen?”
Ziel dieser ersten Meditation ist es, GEWISSHEIT zu erzeugen, dass du sterben wirst.
Die zweite Meditation: Der Zeitpunkt des Todes ist ungewiss.
Folgende Gedanken begleiten deine Meditation:
Es ist sicher, dass du spätestens in 70-100 Jahren nicht mehr leben wirst. Doch wann genau du sterben wirst, ist ungewiss.
Vielleicht bist du ja schon älter, dann denke: Es gibt keine Garantie, dass ich morgen oder nächste Woche noch lebe.
Vielleicht bist du ja noch jünger, dann denke: Es gibt keine Garantie, dass ich alt werde. Denn manchmal sterben die Jungen vor den Alten.
Auch unser Körper ist äußerst verletzlich, und viele Umstände können den Tod herbeiführen. Du kennst bestimmt Menschen, die ganz plötzlich verstorben sind, ohne ein hohes Alter erreicht zu haben.
Nimm dir das Schicksal von Freunden und Verwandten zu Herzen, die durch plötzliche Umstände aus dem Leben schieden, noch bevor sie alt geworden sind. Denke: “So bin ich auch beschaffen, das kann auch mir passieren.”
Who knows? Wir Buddhisten sagen oft: Ich weiß nicht, was früher kommt: der nächste Tag oder das nächste Leben 😉
Ziel dieser zweiten Meditation ist es, folgenden Entschluss zu fassen:
Ich weiß, dass ich sterben werde, aber ich weiß nicht, wann das sein wird. Daher werde ich JETZT das Beste aus diesem kostbaren Leben machen und werde nicht warten, denn das Leben kann jederzeit vorbei sein.
Die dritte Meditation: Zum Zeitpunkt des Todes hilft nichts, außer den Lehren.
Folgende Gedanken begleiten die Meditation:
Bei dieser Kontemplation machst du dir zunächst bewusst, dass du ganz alleine gehen musst.
Du kannst nichts mitnehmen, weder deine Liebsten, noch deinen Besitz, weder Ruhm noch Erfolg.
Schließlich trennt dich der Tod auch von deinem Körper, den du während des Lebens so lieb gewonnen hast. Du hast deinen Körper gepflegt und viel Zeit und Geld investiert, um gesund zu sein und gut auszusehen.
Du musst alles, ja wirklich alles zurücklassen, ganz gleich, wie groß deine Familie ist, wie viele Freunde dir nahe stehen und wie viele Reichtümer du angesammelt hast.
Während ich da auf meinem Bett liege und mich auch alle meine Verwandten und Freunde umgeben, muss ich doch den Schmerz des Sterbens ganz allein erleben.
(Shantideva.)
Da es sich hier um buddhistische Meditationen handelt, sind mit dem Satz “...hilft nichts, außer den Lehren.”, die religiösen Lehren gemeint.
Während des Lebens müssen wir die volle Entfaltung des uns innewohnenden spirituellen Potentials vorantreiben: Liebende Güte, Mitgefühl, Weisheit und Freude.
Denn wer weiß, wann wir wieder so eine kostbare Gelegenheit vorfinden werden.
Ganz allgemein – nicht-religiös – geht es um die Umsetzung und Verwirklichung des eigenen einzigartigen Potentials: Werde DU, die/der du sein kannst. Werde DU, die/der du sein willst.
Kurz gesagt: Entwickle Herz und Verstand – Mitgefühl, Weisheit und alle Fähigkeiten, die sonst noch in dir schlummern 🧡💪🙏
Und zwar nicht im Denken, sondern im Tun.
So wirst du nichts bereuen und kannst leichter gehen, ohne Angst, ohne Traurigkeit, ohne großen Schmerz.
Ziel der dritten Meditation ist es, den Entschluss zu fassen, JETZT mit der spirituellen Praxis zu beginnen und die Verwirklichung des eigenen Potentials nicht weiter aufzuschieben. So bringen das BESTE in uns zum Erblühen 🧡💪🌞.
Denn wir wissen: Dieses Leben ist schneller vorbei, als wir denken. Und wir wissen nicht, wann wir diese guten Lebensumstände wieder vorfinden werden.
PS: Ergänzend hier noch kurz erwähnt die buddhistische Sichtweise: Das Einzige, was wir mitnehmen sind unsere Anlagen – „Samen“ -, entstanden aus unseren vergangenen Handlungen – siehe Kausalitätsprinzip. Denn alle heilsamen und unheilsamen Handlungen hinterlassen sog. Anlagen in unserem Bewusstsein. Das sind Potentiale („Samen„), die, wenn sie entsprechende Bedingungen vorfinden, in Zukunft (im nächsten Leben?) heranreifen werden. Je nach Art des Samens in Form von Glück oder Leid.
Audio: Meditation über Tod und Vergänglichkeit
Fazit
Die bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod mindert nicht nur Ängste, sondern bereichert auch unser Leben.
Diese Meditationen helfen uns, die Realität des Todes zu akzeptieren und das Leben intensiver und sinnstiftender zu gestalten.
Indem wir erkennen, dass der Tod gewiss ist, sein Zeitpunkt ungewiss und wir am Ende nichts mitnehmen können, gewinnen wir eine neue Perspektive: den Antrieb und die Motivation, das Beste aus diesem Leben zu machen, unsere Potenziale erblühen und das Leben nicht verstreichen zu lassen.
Viel Freude beim Leben 😊
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